In einer der kleinsten Uhrenmanufakturen der Schweiz entstehen in Luzern Zeitmesser für Individualisten und Ästheten: HESS heißt diese in Deutschland bislang kaum bekannte Marke. Dass die Manufaktur in einer Kunstgalerie untergebracht ist, kommt nicht von ungefähr. Wir besuchten das kleine Familienunternehmen am Vierwaldstädtersee.
Das Herz des Schweizer Uhrenhandels schlägt - glaubt man den Kollegen der "Handelszeitung" - eindeutig in Luzern. Rund um den zentral gelegenen Schwanenplatz verkaufen die weithin bekannten Juweliere und in zunehmendem Maße auch die Single-Brand-Stores, die sich auf nur eine Marke spezialisieren, so viele Luxus-Zeitmesser wie sonst nirgends in der Schweiz. Der Jahresumsatz der Luzerner Uhrengeschäfte soll bei etwa 700 Millionen Franken liegen. Dazu beigetragen haben vor allem Kunden aus China, deren Zahl allein zwischen 2008 und 2013 um fast 42 Prozent gestiegen ist. Luzern sei mittlerweile das "Hongkong der Schweiz", schreiben die Kollegen.
Die Stiftstraße ist nur ein paar Gehminuten vom Schwanenplatz entfernt und mutet im Vergleich zu diesem Epizentrum der Horlogerie fast schon wie ein Refugium an. Jedenfalls geht es dort deutlich ruhiger und gelassener zu. Wer Glück hat, kann im Haus Nummer 4 durch ein Schaufenster einem Uhrmacher bei seiner filigranen Arbeit zuschauen. Eine kleine, gläserne Manufaktur. Asiatischen Kunden im Kaufrausch begegnet man dort weniger, denn so viele Uhren, wie pro Jahr rund um den Schwanenplatz über die Ladentische gehen, könnte der Mann am Uhrmachertisch hinter der Fensterscheibe sogar dann nicht herstellen, wenn er ein methusalemisches Alter erreichte. Und selbst, wenn er es könnte, würde er es nicht wollen. Denn er liebt kleine, exklusive Stückzahlen.
Die Stiftstraße 4 ist eine erste Adresse für Uhrengourmets der dritten Evolutionsstufe. Die erste Stufe: Man wird vom Uhrenvirus infiziert, von dem viele Betroffene behaupten, er sei therapieresistent. Die zweite Stufe: Man stürzt sich auf die großen Namen und Marken der Branche. Auf jene also, die auch überwiegend am Schwanenplatz verlangt werden. Und schließlich die dritte Stufe: Der Sammler sucht nach Differenzierung, nach Erzeugnissen mit inneren Werten, nach Uhren, die gleichsam eine Seele haben - und nicht nur einen Marketingkern.
Der Mann, dem man manchmal durch das Schaufenster zuschauen kann, wie er - die Uhrmacherlupe vor einem Auge und feinste Werkzeuge in den ruhigen Händen - Zeitmesser der besonderen Art entstehen lässt, ist freilich schon in der vierten Evolutionsstufe angelangt: Zusammen mit seiner Frau baut er seit ein paar Jahren seine eigenen Uhren. Auf dem Zifferblatt, über dessen Besonderheit es noch einiges zu berichten gibt, steht "HESS" - und klein darunter "Luzern".
In Deutschland dürfte diese sehr kleine, aber feine Marke nur wenigen Kennern bekannt sein. In den Schweizer Medien hingegen erzielen HESS-Uhren schon eine bemerkenswerte Präsenz. Das gilt vor allem auch für die beiden Personen, die hinter dieser Marke stehen: Walter Hess und Ehefrau Judith Häller Hess. Sie kamen vor mehreren Jahren auf die im ersten Moment recht verwegene Idee, eigene Uhren zu kreieren und zu fertigen. Brauchte die Schweiz - an Uhrenherstellern und Manufakturen unterschiedlicher Größe gewiss nicht arm - eine neue Mikro-Marke? Wer diese Frage seriös beantworten möchte, muss einiges wissen über das Ehepaar Hess.
"Jedes Detail muss stimmen"
Beide sind in Berufen tätig, in denen Menschen nicht unbedingt der Idee verfallen, eigene Luxusuhren in Kleinauflage anzufertigen. Walter Hess ist weitgereister Techniker und Fabrikationsleiter, seine Frau Judith Häller Hess hat eine medizinisch-technische Ausbildung und ist als Sozialarbeiterin tätig. Uhrenschöpfer sind beide nach wie vor im Nebenjob, doch dank der anfänglichen Erfolge ihrer kleinen Marke gewinnt ihre unternehmerische Tätigkeit immer mehr an Bedeutung. Beide vereint eine ausgeprägte Affinität zur Kunst und viel Sinn für Ästhetik. Dass die Manufaktur Hess in den Räumen der Kunstgalerie "Vitrine" zu Hause ist, kann also kein Zufall sein.
Walter Hess hat es ziemlich früh erwischt: Schon in seiner Jugendzeit wurde er vom Uhrenvirus befallen, und da es sich allemal um eine ansteckende Leidenschaft handelt, infizierte er später auch seine Frau. Obwohl beide so manche Modelle der großen Marken zu ihren Favoriten zählen, waren sie von keinem Zeitmesser so richtig begeistert.
Grundsätzlich lassen sich zwei Spezies von Uhrenfreunden unterscheiden: Die einen interessieren sich ausschließlich für das Werk und dessen feinmechanische Raffinessen. Ein Manufakturwerk muss es sein, edel dekoriert, damit man durch den Glasboden quasi mit den Augen "spazieren gehen" kann. Die anderen wiederum achten mehr auf die Optik und den Wiedererkennungswert. Wenn der Kollege die Uhr sofort erkennt und ihren Preis taxieren kann, ist ihnen das mehr wert als das komplizierteste Manufakturwerk. Und dann gibt es da noch Menschen wie Walter und Judith Hess, die auf ein qualitativ hochwertiges, aufwändig verziertes Werk und gleichzeitig auf ein ganz individuelles Design von subtiler Raffinesse achten.
Sieben Jahre (Frei-) Zeit investierte das Ehepaar in die Entwicklung seiner ersten Uhren. Nichts wurde dem Zufall überlassen. "Jedes Detail muss stimmen", sagt Walter Hess. Und zu diesen Details gehört zum Beispiel der filigrane Sekundenzeiger, den kein Schweizer Hersteller in seinem Sortiment hatte. "Ich wollte einen Zeiger, der schmaler ist als die üblichen Zeiger", erinnert sich Walter Hess. Ein Traditionshersteller aus dem Jura hat diese Herausforderung schließlich angenommen und nach den Vorgaben von Walter Hess den bisher schmalsten Sekundenzeiger, der jemals hergestellt wurde, produziert. Die Suche nach Lieferanten ist für die kleine Marke durchweg anspruchsvoll. "Wir brauchen Lieferanten, die bereit sind, auch Kleinserien zu fertigen und auf unsere Wünsche einzugehen", betont Judith Häller Hess.
Offenkundig war die Suche erfolgreich, denn im Jahr 2010 wurden die ersten 25 HESS-Automatikuhren in der Luzerner Galerie "Vitrine" einem Uhren-affinen Publikum vorgestellt. Die Kollektion nimmt sich noch überschaubar aus. Die TWO.1 ist eine Zeitzonenuhr mit Großdatum und Rotgoldziffern. Sie ist mit schwarzem oder braunem Zifferblatt erhältlich. Später folgte die klassische TWO.2, eine Uhr mit sehr reduziertem Zifferblatt. Obwohl bei diesem Zeitmesser der Begriff "Zifferblatt" eigentlich fehl am Platze ist. Denn auf das Blatt werden nur Rotgoldindizes in Form von Punkten appliziert, Ziffern zur Zeitanzeige sucht man vergeblich. Lediglich eine dezente Datumsanzeige ist bei "3-Uhr" zu finden. Die HESS-Philosophie der Reduktion auf das Wesentliche - bei der TWO.2 kommt sie in besonderer Weise zum Ausdruck. Beide Uhren kosten umgerechnet jeweils rund 8.000 Euro.
Im Inneren der Uhren ticken ETA-Automatikwerke, die man jedoch aufwändig veredelt und nach eingehenden Kontrollen in dichtungsstarke Monocoque-Gehäuse einbaut. So werden die Werke perliert, mit Genfer Streifen verziert und rhodiniert (TWO.1) beziehungsweise rotvergoldet (TWO.2). Um die Lebensdauer der tickenden Preziosen zu erhöhen, wird den Uhren am Ende des Herstellungsprozesses der Sauerstoff entzogen. Anschließend werden sie mit dem Edelgas Argon gefüllt. Das verlängere die Lebensdauer einer mechanischen Uhr, weiß Walter Hess.
Da man sich bekanntlich das Beste bis zum Schluss aufheben soll, kommen wir erst an dieser Stelle zu den Zifferblättern. Diese werden speziell behandelt (wie, das bleibt ein Geheimnis des Hauses), so dass sie das Licht absorbieren. Dadurch ergeben sich beeindruckende visuelle Effekte. "Das Zifferblatt passt sich subtil der Umgebung an. Ein wunderschöner und immer wieder überraschender Effekt. Außerdem wird dadurch die Dualität von Matt und Glanz verstärkt - das samtene Zifferblatt im Kontrast zu den rotgoldenen Indizes und Zeigern", schwärmt Judith Häller Hess, die zwischenzeitlich allerdings bereits einen neuen Favoriten ausgemacht hat: ein Zifferblatt aus Diamantenstaub, das aufgrund der facettenreichen Lichteffekte dem Träger der Uhr noch mehr magische Momente beschert.
Michael Brückner
Weitere Informationen:
www.hessuhren.ch
Bilder: HESS Luzern
Archivbeitrag 20.05.2015