Die Turmuhr des Palais de Justice in Paris, die Rathausuhr in Lenzen (Elbe), die Allstedter-Uhr im Kloster Maulbronn, die Uhr im Meinholdschen Turmhaus in Radebeul (Sachsen) und die Kirchturmuhr in Bucha (Sachsen-Anhalt) – all diese Zeitmesser sind ausgesprochene Hingucker. Und das nicht nur wegen ihrer Größe und historischen Bedeutung, sondern weil ihnen etwas fehlt, das mittlerweile seit mehr als zwei Jahrhunderten zu den Selbstverständlichkeiten einer Uhr gehört: der Minutenzeiger.
Bis etwa Mitte des 18. Jahrhunderts freilich waren Einzeigeruhren die Regel, auf denen man lediglich die Stunden ablesen konnte. Als die ersten Uhrmacher zusätzlich noch einen zweiten Zeiger über das Zifferblatt gleiten ließen, sorgte dies bei den Menschen damals zunächst einmal für Verwirrung. Heute hingegen gelten sogar Uhren mit Stunden- und Minutenzeiger als puristisch. Die Sekundenanzeige gehört zu den Standards, in vielen Fällen auch das Datum. Bei aufwändigeren Armband- und Taschenuhren kommen ein Chronographenzeiger, eine Mondphase und – wenn’s besonders wertvoll sein soll – ein Ewiger Kalender hinzu. Alles gesteuert von filigraner Mechanik, versteht sich.
Einzeigeruhren jedoch folgen dem Prinzip der Einfachheit und des souveränen Umgangs mit der knappen Ressource Zeit. Vermutlich ist dies der Grund, weshalb sich seit einigen Jahren auch Armbanduhren mit lediglich einem Zeiger großer Beliebtheit erfreuen. Manfred Brassler, Gründer und Chef der Firma MeisterSinger in Münster, schwärmt vom „Charme des Ungefähren“, wenn er über die Uhren aus seinem Hause spricht. Oder besser – wenn er über sie philosophiert. Denn die Faszination von Einzeigeruhren lässt sich kaum rational erklären. In einer Zeit, da Quarz- und Funkuhren eine Ganggenauigkeit erreichen, die sogar hochwertige mechanische Chronometer um Längen schlägt, mutet es fast schon wie ein Anachronismus an, ausgerechnet Einzeigeruhren auf den Markt zu bringen. Deren Werke – in der Regel Schweizer Provenienz – arbeiten zwar sehr präzise, doch ist die Zeitanzeige trotz feiner Fünf-Minuten-Skalierung und eines Nadelzeigers immer mit jenem „Ungefähren“ behaftet, das die Freunde dieser Uhren so schätzen. Ein Blick auf einen solchen Zeitmesser macht deutlich: Es ist nicht mehr 11.55 Uhr und noch nicht 12.00 Uhr. Ob es aber 11.57 Uhr oder aber 11.58 Uhr ist, lässt sich selbst bei gutem Sehvermögen nur erahnen.
„Der Träger einer solchen Uhr geht eben fünf Minuten früher zum Zug – und ist damit niemals unpünktlich“, beschreibt Brassler augenzwinkernd die Vorteile seiner MeisterSinger-Kollektion, die mittlerweile auch Dreizeiger-Modelle umfasst. „Seien wir mal ehrlich: Im täglichen Leben brauchen wir doch eigentlich gar keine sekundengenaue Zeit. Oder wann hat zu Ihnen mal jemand gesagt, Sie seien 3 Minuten und 24 Sekunden zu spät gekommen?“, fragt Manfred Brassler. Mögen Einzeigeruhren früher auch innovative Weiterentwicklungen von Sonnenuhren gewesen sein, in der oft beklagten „Beschleunigungsgesellschaft“ von heute sind sie geradezu ein Statement. In einer Gesellschaft, in der oft selbstinszenierte Hektik und chaotisches Multitasking den Takt vorgeben, sendet der Träger einer Einzeigeruhr eine Botschaft der Gelassenheit aus. Er macht sich nicht zum Sklaven von Minuten- und Sekundenzeigern, sondern geht selbstbestimmt und souverän mit seiner Zeit um. Was im Übrigen sogar zu einer Zeitersparnis führen kann, denn schon John Steinbeck wusste: „Man verliert die meiste Zeit damit, dass man Zeit gewinnen will“. Die Freunde von Einzeigeruhren erteilen der „Minuten-Fuchserei“ eine klare Absage. Das mag sicher nicht jedermanns Sache sein, doch der von Skeptikern zunächst nicht für möglich gehaltene Erfolg von MeisterSinger beweist: Es gibt genug Uhrenfreunde, die diese Philosophie teilen.
Mittlerweile bringt das Unternehmen mit Sitz am Kreativkai in Münster Einzeigeruhren mit unterschiedlichsten Komplikationen auf den Markt, darunter Uhren mit Chronographenfunktion (Singular) und Gangreserveanzeige (Unomatik). Im Jahr 2009 ergänzte das Modell Singulator – ein Regulator der besonderen Art – die Angebotspalette. Wer es indessen besonders klassisch liebt, zieht das Modell „02“ mit Unitas-Handaufzugswerk vor, von dem aktuell nicht mehr allzu viele Stücke verfügbar sind.
Die Zeitmesser von MeisterSinger dürften die bekanntesten Einzeigeruhren für’s Handgelenk sein, sie sind aber keineswegs die einzigen. Eine besonders edle Alternative ist die oben gezeigte, limitierte Einzeigeruhr mit handgefertigtem Rotgoldzeiger von Jörg Schauer.
Im Inneren der Uhr tickt mit dem DUROWE-Werk 7426-4 ein wahrer „Leckerbissen“ für Kenner (DUROWE steht für „Deutsche Rohuhrwerke“). Auch Klaus Botta von Botta-Design (UNO) und der Schweizer Hersteller Swinti bringen Einzeigeruhren (mitunter „Minimaluhren“ genannt) auf den Markt.
Diese Zeitmesser sind überwiegend im mittleren Preissegment angesiedelt, gehören also noch nicht der Premium-Liga der Luxusuhren an. Ihre Träger leisten sich indessen einen Luxus der ganz besonderen Art - nämlich einen kleinen Beitrag zur Entschleunigung des Alltags.
Lesen Sie demnächst in dieser Rubrik:
Die Faszination der Fliegeruhren
Bilder: Werkfotos MeisterSinger/Jörg Schauer
Archivbeitrag 08.02.2011