Es sind Zahlen, deren Größenordnung allenfalls an die aktuellen Schuldenstände vieler Staaten erinnert - viele Nullen links vom Komma. Hansjörg Vollmer blättert in einem alten Kassenbuch von Anfang der 1920er Jahre. Fein säuberlich und mit akkurater Handschrift sind auf dem in vielen Jahrzehnten vergilbten Papier die Einnahmen und Ausgaben der damaligen Firma Vollmer mit Sitz in Birkenfeld dokumentiert. In diesen alten Unterlagen zu stöbern, ist für Vollmer immer ein Ausflug in die Familiengeschichte, denn der Gründer des Unternehmens war sein Großvater.
Er hob in der Gemeinde am nördlichen Schwarzwaldrand im Jahr 1922 eine Firma zur Fertigung von Ketten und Bijouterieartikeln aus der Taufe. Die Geschäfte liefen nicht schlecht, doch die hohen Beträge im Kassenbuch vermitteln einen falschen Eindruck: Es war die Zeit der Hyperinflation, der atemberaubenden Geldwertvernichtung. Wer wollte, konnte mit Geldscheinen seine Wände bekleben, denn die Banknoten waren billiger als Tapeten. Im Jahr 1924 entsprach die astronomische Summe von 100 Billionen Papiermark gerade einmal 100 Reichsmark. Nicht unbedingt die besten Zeiten, um ein Unternehmen zu gründen.
Es sollte nicht die einzige Widrigkeit im Auf und Ab der Zeitgeschichte bleiben. So folgten der Zweite Weltkrieg, der Zusammenbruch der Märkte, dann der Boom der Wirtschaftswunderjahre und schließlich die aggressive Billigkonkurrenz aus Fernost. "Wenn es darauf ankam, haben wir immer die Flucht nach vorn angetreten. Und mit dieser Strategie waren wir durchaus erfolgreich", sagt Hansjörg Vollmer, der heute die Geschäfte der Aristo Vollmer GmbH führt. Wie es zu diesem Doppelnamen kam und weshalb die Uhren dieses Unternehmens seit Jahren von Liebhabern und Sammlern ausgefallener Zeitmesser sehr geschätzt werden, ist eine etwas längere Geschichte. Wir wollen sie nur kurz erzählen, denn so interessant eine Firmengeschichte auch sein mag, ungleich spannender sind die Gegenwart und die Zukunft in anspruchsvollen Märkten.
Trotz der heftigen wirtschaftlichen und politischen Turbulenzen in den Jahren nach der Unternehmensgründung etablierte sich die Firma Ernst Vollmer rasch als renommierte Uhrarmbandfabrik. Ob Gliederbänder oder Ketten, geflochtene Milanaisebänder oder Spangen - bis heute wird das mit den Namen Vollmer verbundene Know-how in diesem Segment von Kunden im In- und Ausland geschätzt.
Wir trafen Hansjörg Vollmer, den Enkel des Gründers, am Unternehmenssitz in der Pforzheimer Erbprinzenstraße, unweit des Bahnhofs. Dort erwarben seine Vorfahren nach dem Zweiten Weltkrieg ein Trümmergrundstück und errichteten später darauf das neue Firmengebäude. "Unmittelbar nach dem Krieg war klar, dass die Menschen zunächst andere Bedürfnisse hatten und nicht nach Uhrarmbändern verlangten. Aber es war eben nur eine Frage der Zeit, bis der aufgestaute Nachholbedarf befriedigt werden würde", sagt Vollmer. Ab dem Jahr 1949 begann dann die industrielle Fertigung von Uhrarmbändern. Wo früher Handarbeit die Regel war, wurden nun Maschinen eingesetzt. Dennoch: "In Spitzenzeiten beschäftigten wir hier rund 70 Personen", berichtet Hansjörg Vollmer. Dann aber trat die mächtige und billige Konkurrenz aus dem Fernen Osten auf den Plan, die sogar angesehene und von Kunden hoch geschätzte Hersteller wie Ernst Vollmer zwang, über ihr Geschäftsmodell nachzudenken. Und in dieser Phase bewährte sich die erwähnte Strategie der Flucht nach vorn. "Mein Vater, Hans Vollmer, der nach seinem Maschinenbau-Studium als Diplom-Ingenieur in den 1950er Jahren in den elterlichen Betrieb eintrat, führte 1970 als zusätzliches Produkt die Bandgehäuse ein. Die europäische Uhrenindustrie war Hauptabnehmer. Später dachten wir über ein zusätzliches Endprodukt nach, um unsere Uhrarmbänder und Bandgehäuse besser zu verkaufen. Die Lösung lag an und für sich ganz nahe - wir wollten fortan selbst Uhren bauen und mit unseren Bändern ausstatten."
Hansjörg Vollmer, der in Stuttgart Betriebswirtschaft studierte, kannte sich in der Branche schon recht gut aus. Er war Anfang der 1980er Jahre kurzzeitig mit einem kleinen Uhrengeschäft in der baden-württembergischen Landeshauptstadt tätig gewesen und hielt dank seiner guten französischen Sprachkenntnisse enge Kontakte zu namhaften Herstellern in der Schweiz und Frankreich, die zugleich Kunden des Pforzheimer Uhrarmband- und Bandgehäuse-Produzenten waren. Bald brachte Vollmer die preisgünstige Uhrenmarke "New-Line" auf den Markt. Diese klassischen Modelle mit Glieder- und Milanaisebändern oder Halbspangen erfreuten sich vor allem in den östlichen Bundesländern einer starken Nachfrage - es war die Zeit nach der deutschen Wiedervereinigung. "Der dortige Nachholbedarf war unglaublich", erinnert sich Vollmer. Später fertigte der Pforzheimer Hersteller darüber hinaus sogenannte Private Label-Uhren im Auftrag anderer Unternehmen.
Schnitt! Spätestens an dieser Stelle verlangt die Firmenhistorie eine Rückblende bis ins Jahr 1907. Damals gründete Julius Epple die gleichnamige Uhren- und Uhrgehäusefabrik. Sie war einer von vielen Herstellern von Zeitmessern in und um Pforzheim. Manche Uhren aus dem Hause Epple sind bis heute in historischen Fachbüchern zu finden. Die frühen Uhren der Marke "Aristo" tragen die Initialen "JE" auf dem Werk. Unter "Jules Epple" wurden in den 1990er Jahren noch exklusivere Uhrenmodelle angeboten.
Im Jahr 1998 kam es schließlich zu einer wichtigen Weichenstellung: Hansjörg Vollmer erwarb von Helmut Epple, dem Enkel des Aristo-Gründers, den noch vorhandenen Firmenmantel und gründete als alleiniger Gesellschafter die Aristo Watch GmbH. Somit existierten fortan zwei Unternehmen parallel: Die Ernst Vollmer GmbH & Co. produzierte Uhrarmbänder und Bandgehäuse, während die wiederbelebte Marke Aristo zum Teil recht preisgünstige Uhren auf den Markt brachte. "Im Jahr 2005 schlossen wir aus betriebswirtschaftlichen Gründen die beiden Firmen zusammen zur Aristo-Vollmer GmbH Uhren und Metallband-Manufaktur", berichtet Vollmer aus der jüngeren Vergangenheit des Unternehmens. Und bei der Namensgebung habe er sehr genau auf Details geachtet. So stehe hinter dem Wort Uhren bewusst kein Bindestrich, der einen Zusammenhang mit dem Begriff Manufaktur herstellen könnte. "Im Bereich Uhren sind wir natürlich keine Manufaktur, wohl aber bei den Metallbändern. So fertigen wir aus dem Rohprodukt ein komplettes Endprodukt - teilweise ohne ein einziges Zulieferteil", betont Hansjörg Vollmer.
Schätzungen zufolge stellt die Aristo Vollmer GmbH heute pro Jahr über 6000 Uhren her.
Bei mehr als der Hälfte handelt es sich um mechanische Zeitmesser. Obwohl man für einige besonders hochwertige Modelle aus diesem Hause schon um 1000 Euro investieren muss, stehen Aristo-Uhren im Ruf, vergleichsweise günstig zu sein. "Unser preiswertes Modell, eine kleine Zwei-Zeiger-Uhr mit Quarzwerk, kostet rund 50 Euro. Der XL-Flieger-Chronograph aus Edelstahl mit Fliegerband und Saphirglas hingegen kostet aktuell 1090 Euro", erläutert Vollmer die Preisspanne. Wer aber die Kataloge von Aristo durchstöbert, stellt schnell fest, dass die meisten Zeitmesser preislich zwischen 300 und 700 Euro angesiedelt sind. Ein Schwerpunkt liegt unverkennbar auf Fliegeruhren.
Das Modell "Aristo Kunstflieger" wird wegen seiner nicht zuletzt bei zahlreichen Looping-Testflügen bewiesenen Ganggenauigkeit gleichermaßen von Sport- und Berufspiloten geschätzt.
"Manchmal sind es unsere Kunden, die uns auf neue Ideen bringen. Ein Sportpilot wünschte sich zum Beispiel einen unkomplizierten Zeitmesser mit Leuchtziffern und -zeigern sowie einer Drehlünette zur Kurzzeitmessung. Herausgekommen ist unser Modell ‚Sportpilot', das es in einer ‚Nightflight'- und ‚Dayflight'-Variante gibt", sagt Hansjörg Vollmer. Das Zifferblatt des "Nightflight-Modells" ist mit Leuchtmasse belegt.
Der Flieger-Chrono "de Luxe" mit 44 Millimetern Gehäusedurchmesser und der XL Sextant mit spiegelverkehrten Ziffern gehören ebenso zu den Aristo-Klassikern.
"Think big" könnte derweil das Motto der XXL-Beobachtungsuhren von Aristo sein. Sie weisen einen Durchmesser von 55 Millimetern auf und sind sowohl als Baumuster A (Zifferblatt mit großen Stunden und Zentralsekunde) als auch als Baumuster B (Zifferblatt mit großen Minuten und kleinen Stunden sowie Zentralsekunde) erhältlich.
Beide XXL-Zeitmesser gibt es entweder einzeln (890 Euro) oder im Set (1880 Euro). "Unbestreitbar sind Fliegeruhren von einem faszinierenden Mythos umgeben und somit für Sammler sehr spannend. Das eigentliche Ursprungsmodell aller heutigen Fliegeruhren ist die sogenannte ‚Beobachtungsuhr' oder kurz ‚B-Uhr'. Ihre Geschichte geht zurück bis in die 1940er Jahre. Die B-Uhren wurden damals von der deutschen Luftwaffe speziell für Flieger geordert und eingesetzt. Mit ihrem Gehäusedurchmesser von 55 Millimetern diente eine solche Uhr neben den Bordinstrumenten als wichtige Orientierungshilfe. Deshalb trug man sie oft über der Fliegermontur", erläutert Hansjörg Vollmer.
An Kunden mit einer gewissen Affinität für die Fliegerei richtet sich ferner die Messerschmitt-Kollektion. Für Uhrenfreunde und -sammler von besonderem Interesse dürften die mechanischen Modelle Aristo Me 262 und Aristo Me 109 sein. Sie erweisen zwei fliegenden Legenden Reverenz. Die Me 109 war das zwischen 1935 und 1957 meistgebaute Jagdflugzeug der Welt. Die Me 262 schrieb als weltweit erster Düsenjäger Luftfahrtgeschichte. Im Titan-Gehäuse des Aristo-Modells Me 109 tickt das seltene Handaufzugswerk FE 233.68 Kal. 10 ½. Die auf 500 Exemplare limitierte Uhr gibt es in drei verschiedenen Zifferblattfarben. Ein nettes Detail dieses Zeitmessers: Der dezentral angeordnete Sekundenzeiger wurde auf die Spitze eines auf dem Zifferblatt stilisierten Messerschmitt-Modells platziert, so dass der Eindruck entsteht, es handle sich um einen rotierenden Propeller. Auch das Modell Aristo Me 262 gibt es in drei Zifferblattvarianten ("Schwarze X", "Gelbe 7" und "Weiße 3"). Dieses Modell ist etwas größer als die Me 109 und wird mit einem ETA 2824-2-Automatikwerk ausgestattet. Für einen Preis von 540 beziehungsweise 690 Euro für das Automatikmodell erscheinen diese Uhren noch recht günstig.
Für Fliegeruhren-Nostalgiker gibt es die Aristo Me 262 Tango Tango mit Milanaise-Band, während die "kleine Me" vor allem von Damen nachgefragt wird, aber auch von Herren, die sich weniger voluminöse Uhrengehäuse wünschen.
"Sicher waren Fliegeruhren lange Zeit unsere Bestseller", sagt Hansjörg Vollmer. "Allerdings haben wir unsere Kollektion inzwischen etwas stärker strukturiert. So bringen wir Klassik-, Design- und Sportuhren auf den Markt. Wobei die Sportuhren wiederum in die drei Elemente Wasser, Land und Luft untergliedert sind". An Uhrenfreunde mit maritimen Interessen wendet sich zum Beispiel die U-Boot-Reihe aus Edelstahl und Titan mit selbstleuchtenden Zifferblättern aus Superluminova.
"Größere Erfolge verzeichnen wir seit einiger Zeit mit unseren klassischen Modellen, die etwas den Retro-Trend widerspiegeln", fügt Vollmer hinzu. Dazu gehört in erster Linie die mit einem Durchmesser von 38 Millimetern zurückhaltende Dreizeiger-Uhr Aristocrat, die in der Edelstahl-Variante für knapp 300 Euro erhältlich ist. Angetrieben werden diese Uhren vom Aristomatic-Werk SW 200, das Aristo seit der Jahrtausendwende bei dem Schweizer Unternehmen Selitta Watch in La Chaux de Fonds fertigen lässt.
Gefragt sind die günstigen Mechanikuhren "Made in Germany" derweil beinahe weltweit. Die Marke "Aristo" ist in rund zwei Dutzend Staaten registriert, darunter China, Russland, Japan, USA, Kanada und sogar im Uhren-Dorado Schweiz.
Wer indessen in den USA Uhren des Pforzheimer Herstellers ersteht, findet den Namen "Vollmer" auf dem Zifferblatt. Das gilt auch für das Flaggschiff des Hauses - den Vollmer-Chronometer. Es mag dem Firmenchef ein wenig schmeicheln, dass sich einige Käufer aus den USA nicht mit dem üblichen COSC-Chronometer-Zertifikat begnügen wollen, sondern als Garantieerklärung ausdrücklich die eigenhändige Unterschrift von Hansjörg Vollmer verlangen.
Das entspricht im Übrigen ganz der Philosophie des Pforzheimer Uhren-Concepters, wie er mitunter bezeichnet wird. Er identifiziert sich sehr stark mit seinen Produkten, präsentiert sie im In- und Ausland, darunter auf vielen fernöstlichen Märkten wie Hongkong, Singapur, Taiwan und Südkorea. Und in Deutschland ist er selbst noch im Außendienst aktiv: "Ich betreue das Postleitzahlgebiet ‚6'", sagt Vollmer. Ob bei einem kleinen Juwelier irgendwo in Hessen oder auf einer internationalen Messe in Fernost: Der Pforzheimer versteht sich nicht nur als Hersteller, sondern überdies als Botschafter seiner Zeitmesser.
Bilder: Aristo Vollmer
Archivbeitrag 09.02.2011